Es gibt verschiedene Vorstellungen darüber, wie Veränderung in Unternehmen abläuft. Die, die ich bisher am hilfreichsten fnde, kommt aus der Synergetik. Die Synergetik ist eine Systemwissenschaft. Es geht darum, wie sich ein größeres Ganzes, was aus mehreren Komponenten zusammengesetzt ist, verhält. Wir schauen also nicht (nur) auf das Verhalten einzelner Komponenten, sondern auf ihre Interaktonen untereinander und auf das „größere Ganze“, was daraus entsteht.
Und wie alle Systemwissenschaften lässt sie sich auf eine sehr große Bandbreite von Phänomenen übertragen.
In der Synergetk, die sich aus der Physik ableitet, reden wir von sog. „Phasen“ bzw. „Ordnungsmustern“. Das klingt hochtrabend, ist aber ziemlich einfach: Wasser, was sich im Topf befndet, befndet sich in einer Phase bzw. einem Ordnungsmuster. Ein Gegenstand aus Metall hat ein bestimmtes Ordnungsmuster. Und ebenso eine Firma, die nach bestimmten Prinzipien verfährt und organisiert ist. Wenn wir von Change-Prozessen reden, geht es immer darum, von einem Ordnungsmuster in ein anderes zu gelangen. Von einem stabilen Zustand in einen anderen.
Wenn wir uns in ein neues Ordnungsmuster begeben wollen (was z.B. darin besteht, von nun an in agilen Prozessen zu arbeiten), so müssen wir zunächst das alte Ordnungsmuster destabilisieren. Dazu benötgen wir Energie. Damit wir das Wasser zum Kochen bringen, müssen wir darunter eine Herdfamme entfachen; um einen Gegenstand aus Metall zu schmelzen, müssen wir ihn ins Schmiedefeuer legen. Und ein Unternehmen? In Unternehmen, bzw. bei menschlichem Verhalten allgemein, ist das etwas komplexer, aber funktoniert letztlich genauso. Für das menschliche Gehirn ist die – für unsere Zwecke – entscheidende Form der Energiezufuhr Erregung. Und Erregung schaffen wir dadurch, dass wir eine „Störung“ hervorrufen und damit die Leute aus ihrem Autopiloten, den sich das Gehirn aus Gründen der Energieeffizienz eingerichtet hat, herausholen.
Ein Störung rufen wir z.B. hervor, indem wir gezielt die bisherigen Regeln brechen. Oder indem wir Räume geben, die vorher dicht waren. Indem wir Informatonen geben, die wir vorher nicht gegeben haben (an dieser Stelle sei „Transparenz“ als agiler Wert genannt). Oder – allerdings nicht auf Dauer empfehlenswert – indem wir Umstände schaffen, die die Menschen ein Stück weit unter Veränderungsdruck setzen. Marktdruck ist hier das vielleicht häufigste Beispiel. Jemanden zu begeistern, gehört ebenfalls dazu. Vielleicht ist das die machtvollste Art, einem menschlichen System Energie zuzuführen.
Durch diese Störungen ist es uns leichter möglich, unsere bisherigen Sichtweisen, unsere Bewertungsmuster, zu verändern. „Störungen“ können, aber müssen nicht unangenehm sein – siehe Begeisterung. In der Tat kann uns Begeisterung für etwas auch über die Angst vor oder Überforderung mit etwas anderem hinwegtragen, so dass wir den unangenehmen Teil weniger spüren. Der Zustand der Krise und der Zustand der Verliebtheit liegen hirnphysiologisch sehr dicht beieinander. Beides macht es uns leichter, die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Wie läuft dieser Prozess nun im Detail ab?
Anfangs nimmt die Destabilisierung linear zu. Schritt für Schritt. Das alte Ordnungsmuster wird nach und nach verlassen. Das Metallstück schmilzt langsam; das Wasser wird unruhig. Und unsere bisherigen Unternehmensprozesse werden schrittweise abgewandelt und modifziert.
Ab einem gewissen Punkt allerdings gibt es eine Schwelle. Wenn die überschritten ist, kommen wir in den Zustand der Instabilität. Nichts ist mehr wie vorher. Alles scheint formlos zu sein. Das ist die vielleicht wichtgste Erkenntnis der Synergetik. Wann immer wir Veränderung induzieren, steht uns eine Phase bevor, in der wir weder im alten Ordnungsmuster operieren, noch im neuen. Es fehlt uns der Boden unter den Füßen. Das ist die Phase, die uns am meisten Angst macht.
Das Metallstück wird flüssig und formlos, und das Wasser fängt an, Bläschen zu werfen und leicht aufzuschäumen. Und im Unternehmen sehen wir, wie althergebrachte Prozesse nicht länger funktonieren. Aber mehr noch: Mitarbeiter wie Führungskräfte verlieren zeitweilig die Orientierung, es machen sich Unsicherheit und vielleicht auch Unmut, Ärger und Angst breit, wodurch die Fehleranzahl zunimmt.
Hier kommt nicht selten der Punkt, wo wir uns nach dem Alten sehnen und uns sagen: „Wenn das die Lösung ist, will ich mein Problem zurück!“
Aber der Schein trügt. Es handelt sich nicht um das Ende, sondern um einen Neuanfang. Nicht um den Endzustand, sondern um einen Durchgangszustand.
Ein Sprichwort besagt: „Die dunkelste Stunde ist vor Tagesanbruch.“ Und kurz bevor eine Raupe im Kokon zum Schmeterling wird, ist sie an ihrem größten Degeneratonspunkt angelangt. Sie hat alles hinter sich gelassen, was sie einmal als Raupe ausgemacht hat. Sie ist nicht länger eine Raupe, aber auch noch nichts anderes. Würde sie jetzt ihre Veränderungsentscheidung umkehren, wäre das fatal.
Wenn wir das Ziel, was wir vor Augen haben, erreichen wollen, müssen wir durch diesen Zustand durch. Die Instabilitätsphase zeigt uns, dass wir auf dem Weg sind. Wenn wir uns im Kern verändern wollen, ohne sie durchzumachen – ob einmal im Großen oder immer wieder im Kleinen – dann sollten wir misstrauisch werden, wenn sie nicht kommt. Mal eben zwei Tage Training in einer neuen Methode führen unser Gehirn nicht ausreichend in die Instabilität, um sich wirklich umzuorganisieren. Oder wie wir bei Leanovate sagen: „If you‘re not failing, you‘re not trying hard enough.“
Zugegeben, es ist ungewohnt: Statt uns am Instabilitätspunkt zurückzuziehen, müssen wir genau hier all die Unsicherheit und Desorientierung zulassen. Wir müssen zulassen, eine Zeit lang nicht zu wissen, wo die Reise hingeht (bei Ergebnisoffenheit) bzw. dass es eine Zeit lang nicht so aussieht, als würden wir unser Ziel erreichen (wenn das Ziel festgelegt ist). Wir müssen zulassen, einen Moment lang nicht so leistungsfähig zu sein wie vorher. Das kann wehtun, und es erfordert viel Mut, Beharrlichkeit und Gelassenheit.
Artikel verfasst von von Vincent Ulbrich
Fazit: Veränderung benötigt die Zufuhr von Energie und einen klaren Rahmen, der eine konstruktive Richtung ermöglicht. Es gibt immer eine Phase der Instabilität im Übergang zwischen zwei stabilen Zuständen (Ordnungsmustern). Wir können sehr viel auf einmal verändern (revolutionärer Wandel) oder Schritt für Schritt gehen (evolutionärer Wandel). Der Größe des Wandels entsprechend ist auch das Ausmaß an Instabilität, was wir erwarten können. Was wir also immer brauchen, ist der Mut, die Phase der Instabilität, der Ungewissheit über das, was kommt, auszuhalten. Und je öfter wir diesen Prozess durchmachen, umso sicherer werden wir darin.
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