Das Thema ist nicht neu: viele digitale Produkte schaffen nicht nur Gutes, sondern liefern auch Funktionen, die Usern mehr schaden als nutzen. Die meisten von uns, die im Produktmanagement oder dessen Umfeld arbeiten, kennen das bestimmt: da wird mal kaum sichtbar ein Häkchen gesetzt, ein Text in hellem Grau geschrieben oder der Button für die Newsletter-Abmeldung ist “versehentlich” aus dem optischen Fokus geschoben worden. Und vielleicht hängt das Produkt voll mit Trackingskripten, die wertvolle Kundeninformationen ungefragt weiterleiten. Und der Nutzer bekommt davon kaum etwas mit.
Nun, als Produktmanager fühlt man sich nicht besonders dabei und sucht vielleicht auch den Konflikt mit dem Stakeholder. Oder hat sich selbst im Rausch nach besseren Performance-Zahlen schon längst verloren. Aber abgesehen von diesen kleineren Ärgernissen und Schikanen für unsere Kunden, gibt es auch Features, die weit darüber hinausgehen:
Diese Beispiele wurden von Tristan Harris, einem ehemaligen Google-Designer, in seinen TED-Talks und der von ihm initiierten Aktion “time well spent” aufgebracht. Seine Aussage: Diese Anti-Features (wie wir sie mal nennen wollen) seien nicht neutral, sondern stünden für ein suchtbildendes System. Zusammengefasst handelt es sich hierbei um Features, die
Es gibt auch die passende Studie dazu, dass solche Anti-Features oder auch ganze Produkte die Menschen unglücklich machen, je häufiger sie benutzt werden. Im Wettlauf um die Aufmerksamkeit des Kunden treten Technologielösungen in einen Teufelskreis, um immer tiefer in unserem Reptiliengehirn zu graben und es zu triggern. Wie tief in diesem Reptiliengehirn, das die menschlichen Urbedürfnisse bedient, schon manipuliert wird, zeigt diese absurde Aussage: der größe Mitbewerber von Netflix sei laut deren CEO der Schlaf.
Jeder hat das schonmal bei sich selbst erlebt: nach jeder Unterbrechung braucht es eine ganze Weile, bis man wieder dort ist, wo man abgelenkt wurde. Der totale Kampf um unsere Aufmerksamkeit hat also Opfer: Konzentrationsfähigkeit, Muße, Dinge zu Ende denken, Gespräche mit Freunden, Qualität im Arbeitsleben und Lernen uvm.
Das bekannte und insbesondere im Silicon Valley beliebte Hook-Model von Nir Eyal und Ryan Hoover beschreibt, wie man das Verhalten der Kunden so beeinflusst, dass aus dem Wunsch unseres Kunden ein Problem zu lösen oder einen Job zu erledigen, ein bleibender, instinktiver Reflex wird. Aber sind wir ehrlich, “Hooked” ist nur ein Puzzleteil von Erkenntnissen aus Verhaltensforschung und Produktpsychologie. Erkenntnisse, mit denen sich Produktmanager auch recht gut auskennen.
Doch dürfen wir diese Erkenntnisse ungefiltert an unseren Kunden einsetzen, wohl wissend, dass sie vielleicht gerade müde sind oder einfach nur nebenbei unser Produkt nutzen? Reicht es aus zu sagen, dass erwachsene Menschen mündig genug sind, selbst zu entscheiden - obwohl wir nicht nur solch rational Denkende bei vollem Bewußtsein vor uns haben?
Für die weitere Diskussion möchten wir eine grundsätzliche Unterscheidung vorschlagen:
Über den zweiten Punkt haben wir schon gesprochen. Kommen wir zurück an den Anfang, zu UX-Tricksereien, den sog. “dark patterns”.
Mittels “dark patterns” versucht der Designer, die Aufmerksamkeit des Nutzers von der entscheidenden Information weg zu lenken. Wie kommt es dazu? In der Regel dürften die UX-Designer sich schon im Klaren sein, was sie damit bezwecken und bewirken. Ohne gleich ein zynisches Menschenbild zu unterstellen, sind es oft zu kurz gedachte KPIs in der Conversionrate-Optimierung.
Die kleinen Gaunereien können auch mal schnell die Grenze zum Betrug überschreiten und zum Politikum werden: der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) musste sich in einem Gerichtsurteil von 2015 mit Webseiten von Fluganbietern auseinandersetzen und gewisse UX-Praktiken verbieten. Es muss ja nicht gleich so hoch hängen: mancher Produktmanger hat ja z.B. schon Fragen der Datenschutzbehörde zu den eigenen Gepflogenheiten des Email-Marketings beantworten dürfen.
Die Konsequenzen in beiden Fällen ähnlich:
An dieser Stelle müssen wir als Produktmanagerin, Produktdesigner und Entwicklerin in den Spiegel schauen und uns fragen: Arbeiten wir wirklich noch für den Kunden? Oder optimieren wir nur unsere KPIs, während wir uns gegenseitig die Mär vom Kundennutzen erzählen?
Und: können wir und unser Unternehmen uns eigentlich eine solche gestörte Beziehung zum Kunden dauerhaft leisten - oder können das nur mono- bzw. oligopolistische Unternehmen wie unsere Telefonieanbieter? Nicht zufällig gilt bei vielen Produktstrategen das Motto “the winner takes it all”.
Deswegen wollen wir, der Produkt-Kiez bei Leanovate, eine Diskussion und ein Bewusstsein darüber schaffen, was Produktmanagement und -design darf, also gewissermaßen eine Ethik für digitales Produktmanagement.
An dieser Stelle hilft der Bezug auf die angewandte Ethik, die im Bereich der Wirtschaftsethik im Dialog mit Ökonomen und Sozialwissenschaftlern steht:
Aus der Frage nach dem richtigen Handeln kommen wir zu Verhaltensstandards, die das menschliche Wohl und “das Gute” fördern. Und das möglichst so, dass wir damit Geld verdienen.
Um wieder auf unsere Frage, was wir als Produktmanager eigentlich dürften, zurückzukommen, wollen wir uns auf die Mikroebene, also das Handeln von Individuen, beschränken. Ohne Zweifel schaffen Unternehmen das Umfeld für ethisches Verhalten. Doch findet sich oft der Produktmanager oder Product Owner inmitten eines Entscheidungsfindungsprozesses, der indirekt durch Druck aus dem Management beeinflusst ist. In erster Linie sollen die Performancezahlen nach oben getrieben werden, ethisches Verhalten ist dann erstmal nicht Priorität. Aber um es klar zu sagen: Wir haben eine Verantwortung für unser Produkt: erstens für den potentiellen Schaden beim Nutzer und zweitens für das Unternehmen, das unter Umständen rechtlich belangt wird oder deren Kunden sich aus mangelndem Vertrauen abwenden.
Aber kann ich als Produktmanagerin mein Produkt und die damit verbundenen Zahlen positiv beeinflussen - ohne Hilfe von halbseidenen Blackhat-Techniken? Es gibt einige schöne Beispiele für ethische Standards, die aber eher abstrakt oder werteorientiert bleiben:
Aber vielleicht brauchen wir nicht unbedingt einen Hippokratischen Eid für Produktmanager. Vielleicht hilft es einfach, die richtigen KPIs zu definieren: anstatt die Häufigkeit der Nutzeraktivität zu maximieren, wäre es sinnvoller, sie zu minimieren - bei gleichbleibenden customer value. Oder wie wäre es, nicht die Conversion, sondern die positive Zeit zu optimieren, die dank des Produktes verbracht wurde?
Welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht? Wie geht ihr damit um, wenn bei der Kennzahlenoptimierung auch mal der Kunde unter die Räder kommt? Sucht ihr den Dialog oder vielleicht auch mal den Konflikt?
Rufen Sie uns an: 030 – 555 74 70 0