Wir müssen uns verändern - eine Botschaft, die häufig in Veränderungsinitiativen gesendet wird. Gleichzeitig entsteht Widerstand & die geforderte Veränderung wird geblockt, sei es weil “es so doch schon immer läuft” oder weil bestimmte Führungskräfte von der Veränderung selbst betroffen wären. Es werden zwei widersprüchliche Botschaften gesendet - es kann ein double bind entstehen.
Die Theorie des double bind stammt aus der Psychologie (siehe Quellenhinweis) und beschreibt ein Phänomen, bei dem zwei widersprüchliche Signale in der Kommunikation vorliegen. Diese widersprüchlichen Botschaften führen bei dem Kommunikationsempfänger zu einem Dilemma - es gibt für ihn keine richtige Reaktion. Wichtig dabei ist, dass nicht nur die ausgesprochene Kommunikation gilt, sondern ebenso das widersprüchliche Verhalten. Doch es gibt weitere Kriterien: Beispielsweise wird es meist abgelehnt, den Widerspruch auf der Metaebene zu adressieren. Weiterhin besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Akteuren und somit kann die Handlungsaufforderung nicht einfach ignoriert werden. All diese Kriterien können für die praktische Arbeit Ansatzpunkte für ein double bind sein, müssen jedoch nicht jederzeit erfüllt sein.
Uns begegnen in der Arbeit mit Teams und Organisationen regelmäßig unbewusste oder bewusste double binds und diese können für Teams oder Gruppen zu massiver Frustration führen, weil sie entweder unterbewusst belasten oder für die Betroffenen nicht adressierbar sind - es führt zu kognitiver Dissonanz. Wichtig dabei ist, dass es sich nicht um einen Widerspruch handeln muss, sondern lediglich die Kommunikation als solcher wahrgenommen wird. Das Gesprochene widerspricht dem gelebten Verhalten aus Sicht der Empfänger. Dies kann schon bei Kleinigkeiten anfangen.
“Dies sind unsere Fokusthemen für das kommende Quartal und diese haben höchste Priorität - vergessen Sie gleichzeitig nicht: Die laufenden Initiativen und das Tagesgeschäft dürfen nicht untergehen.” Für die Betroffenen ist nun nicht entscheidbar worauf sie ihre Zeit verwenden sollen - wenn sie das Tagesgeschäft vernachlässigen, wird ihnen das zu Lasten gelegt - dasselbe kann passieren, falls die Fokusthemen nicht bearbeitet werden. Infolgedessen befinden sich die Betroffenen in einer “unlösbaren” Situation - egal für welche Option sie sich entscheiden sind negative Folgen zu erwarten. Ein aus ihrer Sicht kurzfristiger Ausweg könnten Überstunden und Überlastung sein - nachhaltig ist dies jedoch nicht.
Es wird kommuniziert, dass eine Feedbackkultur wichtig und Fehler essentiell sind, um besser zu werden - gleichzeitig wird bei Feedback nach Begründungen gesucht, um das eigene Verhalten zu rechtfertigen und von der Führungsebene selbst werden Fehler nicht kommuniziert.
Führungskräfte kommunizieren, dass es ihre Hauptaufgabe sei, die Teams zu unterstützen und diesen jederzeit zur Verfügung zu stehen. Dafür gibt es extra eine Open Door Policy, so dass die Mitarbeiter ihre Führungskraft jederzeit aufsuchen können. Gleichzeitig findet man die Führungskraft selten hinter der offenen Tür - sie verbringt die Zeit in wichtigen Meetings. Ein spontanes Gespräch ist so leider nicht möglich.
Weitere Beispiele, die zu double binds führen können, sind die Themen Werte oder Strategie - diese spiegeln bestenfalls das Verhalten einer Organisation wider und dienen als Entscheidungsprämissen. Doch was passiert, wenn als einer der Werte “Vertrauen” kommuniziert wird und gleichzeitig die Mitarbeiter sich durch das Verhalten der Führungskräfte kontrolliert fühlen? Bewusst oder unbewusst können solche Dissonanzen sowohl Mitarbeiter und Teams, als auch Führungskräfte frustrieren. Dies kann sich in zynischen Bemerkungen äußern. Hier gilt “The map is not the territory”. Nicht das Niedergeschriebene, sondern die gelebte Realität spiegelt die Werte wider - und diese sollte sich mit den geschriebenen Werten decken, ansonsten entstehen double binds gefolgt von Demotivation, Frustration und Resignation.
Im strategischen Bereich gilt Ähnlichliches: die Strategie sollte sich mit dem Gelebten decken: wenn eine Strategie vorgegeben wird, die sich nicht mit dem gelebten Verhalten verbinden lässt, entstehen ebenso Widersprüche. Schlimmstenfalls führen double binds zu Nicht-Handeln - Strategie wird zum Schauspiel, ohne Einfluss auf das echte Verhalten der Organisation zu haben.
Eine Grundlage des agilen Arbeitens ist es, dass Teams autonom arbeiten, um so bessere Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Daher gilt es bei einem Übergang zu agilerem Arbeiten häufig darum, Entscheidungskompetenz an Teams zu übergeben - was nicht immer leicht fällt. Diese Situation bietet nahrhaften Boden für (unbemerkte) double binds “Ihr könnt das als Team autonom entscheiden, solange ihr euch richtig entscheidet”. Hier sollte dem Team doch eine innere Warnlampe erleuchten. “Ihr könnt und sollt euren eigenen Prozess als selbstorganisiertes Team finden!” und gleichzeitig werden unerwünschte Entscheidungen der Teams solange hinterfragt, bis diese die erwünschte Entscheidung treffen. Dies führt im Extrem zu einer solchen Frustration, dass eine Schauspiel-Selbstorganisation entsteht - Kollaboration wird suggeriert, obwohl die Entscheidung im Vornherein feststeht.
Je mehr sich derartige Widersprüche häufen und in einem Übergang zu mehr agilem Arbeiten nicht aufgelöst werden, desto größer wird der Widerstand - wozu etwas ändern, wenn die alten Grenzen und Regeln in neuem Gewand bestehen bleiben? Wenn die neue Freiheit nur wie eine Farce empfunden wird? Daher gilt es, die Kommunikation und das Verhalten regelmäßig zu spiegeln und zu reflektieren - wo gibt es Widersprüche?
Der erste Schritt ist es, die wahrgenommenen Widersprüche für sich selbst zu erkennen - ob als Betroffener oder als Coach. Als Coach besteht zusätzlich häufig das Mandat, ebensolche Muster durch Beobachtungen zu spiegeln und den Klienten zur Reflektion zu verhelfen. Anhand von Hypothesen kann der Coach selbst die Widersprüche adressieren und erfragen: “Ich habe gehört, Sie bieten Ihren Mitarbeitern an, jederzeit auf Sie in Ihrem Büro mit offener Tür zu zu kommen - gleichzeitig habe ich bemerkt, dass Sie die meiste Zeit Ihres Tages in Meetings verbringen. Wie passt das zusammen?”. Hier gilt es mit den Führungskräften in einen Dialog zu gehen und aus diesem Grund wird Reflexionsfähigkeit immer wichtiger für Führungskräfte: Wie wird mein Verhalten als Führungskraft von der Belegschaft wahrgenommen? Strukturierte, regelmäßige Feedback-Formate zwischen Teams und Führungskräften können ebenso vermeintliche Widersprüche aufdecken. Eine andere Möglichkeit ist es - beispielsweise bei der Findung einer Strategie - die Gruppe selbst reflektieren zu lassen, welche möglichen Widersprüche aufkommen könnten. Ein Widerspruch, der mir häufig in agileren Kontexten begegnet ist: Wie können wir Alignment und gleichzeitig Autonomie herstellen? Wenn dieser Widerspruch adressiert wird, finden Gruppen dazu häufig Lösungen. Hierzu kann Wicked Questions ein tolles Format sein. Die Idee ist simpel und mächtig zugleich - eine Gruppe soll sich selbst die Frage stellen: Welchen paradoxen Herausforderungen müssen wir uns stellen?
Bei der Adressierung von double binds gilt es zuallererst, empfundene Widersprüche zu erkennen, um diese dann lösungsorientiert adressieren zu können. Aus einer “entweder-oder” Situation kann ein “und” oder etwas ganz Anderes werden. Abhängig davon, welches Mandat der Coach hat, kann es einfacher sein, die Widersprüche durch Beobachtungen zu adressieren oder die Gruppe selbst die Widersprüche aufdecken zu lassen. Wenn sie erstmal ausgesprochen sind, kommen meiner Erfahrung nach die Teams und Gruppen auf innovative Ideen, wie sich diese Widersprüche auflösen lassen.
Hier ist zu sagen, dass jeder mit der Theorie arbeiten kann. Der erste Schritt ist es, selbst zu erkennen, in welchen Situationen man einen double bind wahrnimmt und diesen dann zu adressieren. Ein Coach hat in diesen Situationen jedoch den Vorteil, dass er häufig das Mandat hat und nicht Teil des Systems ist.
Für mich als Coach ist es ein wichtiges und bisher extrem hilfreiches Instrument, auf solche Widersprüche zu achten. Wenn ich diese so schneller erkenne, ist es einfacher, durch Reflexionsfragen zu testen, ob meine Hypothesen zutreffen. Dann kann ich mit einer Gruppe gemeinsam an Lösungen arbeiten. Achtet mal selbst darauf - welche widersprüchlichen Aussagen begegnen euch in eurer Arbeit und wie habt ihr diese aufgelöst?
Quelle: Bateson, G., Jackson, D., Haley, J., Weakland, J. (1956): Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie. In: Bateson, G. (1972): Ökologie des Geistes. Frankfurt (Suhrkamp) 1981, S. 270–301.
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