Wenn wir bei Kunden agile Methoden einführen, stellt sich immer wieder die Frage: Vorgehen nach Schulbuch oder Anpassung an die konkrete Situation? Und natürlich fühlt sich das Bestehen auf den Regeln aus Scrum Guide und Co. an wie Korinthen zu kacken. Der gesunde Menschenverstand ruft förmlich danach, sich pragmatisch den Gegebenheiten anzupassen. Doch ist diese schnelle Anpassung im langfristigen Sinne des Zieles einer erfolgreichen agilen Transition?
Die japanische Philosophie, auf der ja große Teile der agilen Prinzipien beruhen, bietet auch hier eine klare Empfehlung. Die dortige Kampfkunst kennt drei Stufen des Lernens, die ein Schüler von den Anfängen bis zur Meisterschaft seiner Kunst durchläuft. „Shu Ha Ri“ bezeichnet diese Entwicklung und meint: Erst lernen, dann entfernen, dann weiterentwickeln.
‚Shu’, die erste Stufe des Lernens, bedeutet etwa „erhalten, gehorchen“. Man lernt, indem man nachahmt und den gegebenen Regeln folgt. Nur, wer die Regeln beherrscht, so die Idee, sei in der Lage, sich später über diese hinweg zu setzen, ohne die Kunst an sich zu verlieren.
‚Ha’ als zweite Stufe von Shu Ha Ri lässt sich übersetzen mit „(auf)brechen, frei werden, abschweifen“. Hier geht es darum, die gegebenen Regeln und Standards zu variieren und auf die eigene Situation anzupassen. Dazu gehört auch, die Hintergründe zu verstehen, um so über das reine Befolgen von Regeln hinaus zu kommen.
‚Ri’ als dritte und höchste Stufe schließlich bedeutet „verlassen, trennen, abschneiden“ und meint, die gegebenen Muster hinter sich zu lassen um, von eigenen Impulsen gesteuert, eigene Wege zu gehen. Die Erfahrung und das Beherrschen der Regeln ist dabei die Voraussetzung, um sich in dieser fortgeschrittensten Variante unabhängig zu machen von der Lehre und deren Ideen frei anzuwenden.
Für eine agile Transition bedeutet diese Philosophie also tatsächlich zunächst: Folge den Regeln, wie sie im Buche stehen! Nimm die Scrum-Regeln genau oder lerne in Kanban dein System zu verstehen, und handele danach.
„Aber...“ höre ich die Einwände von allen Seiten, „... das ist doch albern, sich daran so fest zu krallen. Wir haben in unseren Schulungen gelernt, wie es eigentlich geht, aber in der Praxis können wir ja wohl direkt zum nächsten Schritt übergehen und es so machen, wie es für uns am besten passt.“
Ja, sicher, das kann man. Und es wird auch oft getan, auch in Projekten, an denen ich selbst beteiligt war oder bin. Ich würde solche Projekte bestimmt nicht pauschal als „gescheitert“ bezeichnen!
Dennoch legt die Philosophie von Shu Ha Ri eine wichtige Frage nahe: Werde ich jemals in der Lage sein, die Methode, die Kunst wirklich so souverän zu beherrschen, dass ich sie frei verändern und weiter entwickeln kann, wenn ich nicht zu Beginn meiner Lehrzeit die Regeln und deren Auswirkungen am eigenen Leibe kennen gelernt habe?
Wer sich die Regeln von Beginn an zurechtbiegt, droht im „ScrumBut“ stecken zu bleiben: Es funktioniert irgendwie, und vermutlich ist es erfolgreicher als die meisten klassischen Wasserfall-Projekte. Aber die eigene Weiterentwicklung ist begrenzt, denn diese erfordert eine Beherrschung der Methode. Und zur Beherrschung einer Methode gehören auch die Grundlagen und zum Können wiederum gehört mehr als das theoretische Wissen. Das theoretische Wissen kann man tatsächlich in einer Schulung lernen, aber ob man es deswegen beherrscht, verinnerlicht hat, um auch noch Jahre später mit diesen Grundlagen-Regeln souverän umgehen zu können? Ich habe meine Zweifel.
Wer eine Methode, wie etwa Scrum oder Kanban, wirkliche beherrschen lernen will, ist also gut beraten, wenn er die Regeln zunächst ernst nimmt. Für uns als agile Berater bedeutet dies, dass wir in dieser ersten Phase vor allem Lehrer sind oder Trainer, die die Richtung weisen und bei der Umsetzung der Regeln unterstützen.
Erst, wenn ein Team oder eine Organisation eigene Erfahrungen gesammelt haben, ist es Zeit für die zweite Stufe des Lernens, die Modifizierung. Der Trainer wird zum Berater, der das Team dabei unterstützt, Varianten zu finden und auszuprobieren, was davon für sie selbst am besten passt.
Nur daraus, aus der eigenen Erfahrung von Varianten und Abwandlungen und dem damit einhergehenden Verständnis von Sinn, Zweck und Hintergründen jeder einzelnen Regel, kann sich dann die dritte Stufe der Meisterschaft entwickeln. In dieser Phase ist ein Team dann selbst am besten in der Lage, seinen Fortschritt zu steuern, und wird agile Berater höchstens als Ideengeber benötigen oder als Coaches, die den Prozess steuern, ohne Inhalte vorzugeben.
Die Frage also: „Regeln befolgen oder an die Situation anpassen?“ hat unterschiedliche, in jedem Falle aber eindeutige Antworten, je nachdem in welcher Phase sich ein Team befindet. Beides hat seine Notwendigkeit, eines nach dem anderen. Damit nicht der zweite Schritt vor dem ersten kommt und damit oft auch der letzte bleibt.
Rufen Sie uns an: 030 – 555 74 70 0